„Du stellst meine Füße auf weiten Raum“

Predigt von Präses Dr. Thorsten Latzel (Düsseldorf)
zur Eröffnung der Jahrestagung 2024 im Altenberger Dom

 

Der Friede Gottes und die Liebe Christi und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch allen. Amen.

Liebe Gemeinde, liebe Zisterzienser-Erben,
es gehört zu einer gewissen religiös-kommunikativen Unkultur unserer Tage, biblische Texte zu zerhäckseln. Sie durch den kommunikativen Schredder zu jagen, bis kleine oder kleinste Sinneinheiten übrigbleiben.

Sie kennen das vielleicht auch: Von den Motti der Kirchentage:
„Jetzt ist die Zeit.“
„Schaut hin.“
„Was für ein Vertrauen.“
„Lebendig, kräftig, schärfer.“

Von entsprechenden Posts auf Instagram und Facebook.
Oder von der gefälligen Verwendung von Bibelsprüchen auf Postern oder Karten.
Glaube im Yogi-Teebeutel-Format.
Gott in homöopathischen Dosen.
„Ach, klingt doch schön!“
Für mehr reicht die kognitive Aufmerksamkeitsspanne nicht. Eine Weisheits-Suppenküche mit religiösem Einheitsglutamat. Der tiefere Zusammenhang der Zeichen, das, was etwa Martin Luther das Tor zum Paradies öffnete, geht dabei oft verloren. Es ist wie Ostern ohne Gründonnerstag oder Karfreitag. Wie eine Erlösung ohne Anfechtung. Wie ein Glaube ohne existentielle Tiefe.

So ähnlich geht das auch mit Psalm 31.
Er bietet einen Schatz an netten religiösen Versatzstücken.
– „Meine Zeit steht in Deinen Händen.“ (V. 16)
– „Du stellst meine Füße auf weiten Raum.“ (V. 9)
– „In deine Hände befehle ich meinen Geist;
du hast mich erlöst, Herr, du treuer Gott.“ (V. 6)
Das klingt doch schön und friedlich und freundlich!

Doch der Psalm enthält eben auch ganz andere Stellen.
Und er ist nach Lukas der Sterbepsalm Jesu am Kreuz.

Um alte biblische Texte wie den Psalm 31 wirklich zu verstehen, muss man sich ihnen wirklich aussetzen. Sie in ihrem Zusammenhang wahrnehmen. Sich selbst von ihnen lesen lassen. Immer wieder. „Versteh mich nicht so schnell.“

Dafür können wir als Protestant/innen etwas von der Tradition der Zisterzienser lernen:
– von ihrer Stille, dem Sich-in-Demut-Üben,
– von ihrem konzentrierten, kontemplativen Leben,
– von der Klausur an besonderen Orten wie hier im Dom,
– von ihrem individuellen Gebet und dem gemeinschaftlichen Gottesdienst.

Nicht in der Niederschwelligkeit, sondern gerade in einer recht verstandenen Hochschwelligkeit liegt die aktuelle Bedeutung dieser Tradition. In diesem Sinn: ein Versuch, Psalm 31 neu zu lesen –
und uns von ihm lesen zu lassen.