Gott will Vielfalt
Einer der Predigttexte zu Pfingsten ist die Geschichte vom Turmbau zu Babel. Oft wird dieser alttestamentliche Text so ausgelegt: Früher gab es eine Menschheit mit einer Sprache, alle verstanden einander. Doch dann bauten die Menschen in ihrer einen Wolkenkratzer, der noch über den Wolken von der Größe menschlicher Macht zeugen sollte. Gott besah sich dieses kühne Projekt und bestrafte den Hochmut mit der Verwirrung der Sprachen. Daraus lässt sich schlussfolgern: die Existenz vieler Sprachen, vieler Völker, vieler Kulturen ist eine Strafe Gottes.
Eigentlich geht es in diesem Mythos um etwas anderes: um den Umgang einer Besatzungsmacht mit den unterschiedlichen Kulturen und Volksgruppen. Die babylonischen oder assyrischen Eroberer duldeten Vielfalt genauso wenig wie die Diktatoren von heute. Weder die Kurden noch die Uiguren dürfen ihre kulturelle Identität pflegen; man nimmt ihnen ihre Sprache und damit ihre eigene Identität und Geschichte. Auch im deutschen Reich hat es die von oben verordnete Gleichmacherei gegeben: Ein Volk, ein Führer ein Vaterland. – Den Menschen in der Ukraine nimmt man gar ihr Land und ihre Existenz.
Durch die Zerstörung des Turmes stellt Gott also die Vielfalt der Menschen wieder her. Keine Strafe, sondern ein Plädoyer für Multikulturalität. – Gott rettet die menschliche Kommunikation mit ihrer Sprachvielfalt, ihren unterschiedlichen Färbungen und Nuancen, manchmal auch Missverständnissen, gegen ein technisches Kommunikationsverständnis von Vereinheitlichung. – Gott will Vielfalt. Der alttestamentliche Text erfährt in der Pfingstgeschichte aus dem Neuen Testament keine Korrektur, sondern eine Fortsetzung. Kein Wunder, denn Gott bleibt sich treu, im Alten wie im Neuen Bund.
Pfingsten 2022. Die Pandemie ist immer noch nicht überwunden und der brutale Vernichtungskrieg in der Ukraine geht tagtäglich weiter. – Der Turmbau zu Babel: Ich denke an die Skylines der Metropolen, an den imperialen Anspruch der Großkonzerne sich mit ihren Gebäuden einen Namen machen zu wollen. Babylonische Türme, Imponiergehabe bis heute.
Ich höre die fremdländischen Orte aus der Apostelgeschichte und denke an ferne Landschaften, fremde Menschen, unverständliche Sprachen. Judäa, Kappadozien, Phrygien und Pamphylien. Manchmal Tag träume ich von den verfallenen Höhlenkirchen in Göreme und den zipfelmützigen Gesteinsformationen Kappadoziens, von Alanya, der trubeligen Hafenstadt am blauen Meer.
Mir wird das Herz schwer, wenn ich an die Türkei unserer Tage denke. Und das Herz ist auch schwer beim Gedanken an die Ukraine. So viele Menschen verlieren ihr Leben in einem Krieg, den wohl keine Seite gewinnen kann. Was bleibt sind Trümmer und Tod.
Die Bibel beschreibt Pfingstlandschaften. Die pfingstliche Völkerkunde entschlüsselt unsere Sprache für andere und macht die Sprache anderer für uns verständlich. Über alle Grenzen hinweg. Gottes will Multikulturalität. Wir haben erlebt, dass die Pandemie Mauern hochgezogen hat. In unserem freien Europa waren auf einmal die Grenzen dicht. Der Krieg in Europa hat uns wieder zusammengebracht. Aber unsere Einheit ist fragil. – Und vieles haben wir ganz aus dem Blick verloren. Die Flüchtlingslager sind noch überfüllt, Kinder hungern und Menschen ertrinken immer noch im schönen blauen Meer. Die Klimakatastrophe schreitet voran. Das Pfingstfest, das der Evangelist Lukas beschreibt bleibt ein Gegenentwurf zu unserer aktuellen Situation. Menschen , die sich verstehen über alle Grenzen hinweg. Schon damals lächerlich gemacht und in Zweifel gezogen von Skeptikern: Die sind doch alle besoffen. In düsteren Zeiten müssen Hoffnungsgeschichten erzählt werden. Denn sonst droht verloren zu gehen, wes Geistes Kinder wir sind. Wenn wir in diesen düsteren Zeiten um Gottes befreienden Geist bitten, dann geht es um einen wind of change, kein laues Lüftchen. Einen Geist der Veränderung, der Pläne, Wünsche und dogmatische Gewissheiten durchkreuzt. Prophet*innen und Apostel*innen haben es erlebt. Wo Gottes Geist weht, sehe ich auf einmal Dinge, die ich vorher nicht wahrgenommen habe. Die biblische Botschaft rüttelt am Mund-Nase-Schutz, am dogmatischen Stacheldraht zwischen den Kirchen, lädt ein unsere Herzen über alle Grenzen zu werfen und heißt die Geflüchteten willkommen. Wo Gottes Geist weht, ist Freiheit. Da gewinnt die Liebe. Da verfliegen Kleingeist, Weltschmerz und Zukunftsangst. Die Freund*innen Jesu haben es erlebt. Der Geist der Niedergeschlagenheit hielt sie im Würgegriff.
Aber Gott füllte ihre innere Leere mit NEUEM Geist, mit Feuer und Lebenskraft, mit Hoffnung für sich und die Welt. – Heiliger Geist: Gott hält es nicht im Himmel. Gott macht sich auf in unser Menscheninneres. Tröstend, wenn es in uns weint, stärkend, wenn Zweifel uns auffressen und wenn wir nicht beten können, vertritt er uns mit unaussprechlichen Seufzern.
Diesem Geist traue ich immer noch etwas zu. Vielleicht sogar, dass diese Kraft die Kriegsparteien an den Verhandlungstisch bringt, damit die Waffen endlich schweigen.
Ein gesegnetes Pfingstfest wünscht Ihnen
Claudia Posche
Pfarrerin am Altenberger Dom