„Du bist ein Gott, der sich zeigt. Du bist der Gott, der mich sieht“ (Genesis 16,13) | Jahreslosung 2023

»Du bist ein Gott, der mich sieht.« Über dem neuen Jahr steht ein kurzer Satz, hinter dem sich eine bewegende Geschichte verbirgt (1.Mose 16). Abraham und Sara, die Ureltern Israels, hofften vergeblich auf Kinder. In ihrer Not bestimmte Sara ihre Magd Hagar zur Leihmutter. Sie wurde von Abraham schwanger, aber glücklich wurden die drei nicht. Sara behandelte Hagar so schroff, dass diese keinen anderen Ausweg sah, als zu fliehen. Hinaus in die Einsamkeit der Wüste. Irgendwo an einer Wasserquelle erschien ihr ein Engel Gottes. Dem schüttete sie das Herz aus, hoffte auf Hilfe, Trost und Orientierung.

Ich stell mir vor: Die Antwort des Engels war für Hagar überraschend und verstörend (1Mo 16,9-11): „Kehre zu deiner Herrin zurück und ordne dich ihr unter“. Geht´s noch? Auf keinen Fall zurück. Das Herz raste, der Verstand konnte kaum fassen, was der Engel ihr versprach: „Du wirst unzählige Nachkommen haben. Du wirst einen Sohn zur Welt bringen. Nenn ihn »Ismael, denn Gott hat dein Flehen gehört«.

Und jetzt? Erst mal zur Ruhe kommen, um Fassung ringen, Gedanken ordnen. Erleichtert fand Hagar Worte für das, was da geschehen ist (16,13): „Du bist ein Gott, der mich sieht“. Mitten in der Wüste erlebte Hagar eine Lebenswende: Sie fasste „am Brunnen des Lebendigen“ Vertrauen zu dem Gott, „der nach ihr sieht“ (1Mo 16,14). Mit diesem Vertrauen fasste sie Mut, zu Sara und Abraham zurückzukehren und den Sohn zu gebären, dem Abraham den Namen Ismael gab. Wie es ihr dann bei Abraham und Sara erging, erzählt uns die Bibel nicht. Wurde sie wieder unterdrückt oder behandelte Sara sie mit Respekt? Es bleibt im Dunkeln. Aber am Brunnen des Lebendigen begegnete sie – wenigstens für ein paar Stunden – Gott, von dem es heißt:

„Du bist ein Gott der mich sieht“ – „Du bist ein Gott, der sich zeigt“ – „Du bist ein Gott, der Flehen erhört“

Die Bibel nennt das an andere Stelle »Segen«. Am Ende eines jeden Gottesdienstes bitten wir darum mit den Worten des Aaronitischen Segens (4Mo 6,24-26):
»Der HERR segne dich und behüte dich, der HERR lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der HERR erhebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.«

»Du bist ein Gott, der mich sieht«.
Wir Menschen sehnen uns danach, dass wir nicht übersehen werden. Um so Krisen durchzustehen und mit neuer Hoffnung weitergehen zu können: nach Zeiten der Krankheit, der Enttäuschung, der Trauer oder der Verzweiflung. Vielleicht auch mit bangem Herzen oder ohne zu wissen, was kommt. So wie einst Hagar. In einem neueren Kirchenlied heißt es (EG 638,1-3):

Wo ein Mensch Vertrauen gibt, nicht nur an sich selber denkt,
fällt ein Tropfen von dem Regen, der aus Wüsten Gärten macht.
Wo ein Mensch den andern sieht, nicht nur sich und seine Welt,
fällt ein Tropfen von dem Regen, der aus Wüsten Gärten macht
Wo ein Mensch sich selbst verschenkt und den alten Weg verlässt
fällt ein Tropfen von dem Regen, der aus Wüsten Gärten macht.

Wir werden uns auf der Jahrestagung in Lehnin mit Klostergärten beschäftigen. Das Treffen ist auch eine Zeit, in der wir einander ansehen und hoffentlich so mancher Tropfen auf unsere Wüsten fällt, so dass wir gestärkt in den Alltag gehen können.
Hagar begegnete am »Brunnen des Lebendigen dem Gott, der uns sieht«. Bei der Tagung in Lichtenstern/Löwenstein (2022) referierte Äbtissin Dr. Hildegard Brem vom Kloster Mariastern-Gwiggen in Vorarlberg/Österreich über Frauen auf Gottsuche. Eine davon war Gertrud von Helfta. Unvergesslich ist ihr Leitspruch, den wir in ihrem Heimatkloster Helfta (2019) kennengelernt haben:
„Vor dir, mein Herr, steht die leere Schale meiner Sehnsucht. Du mein Herr und Gott, meine Freude, meine Sehnsucht, du der Quell meines Lebens, du meine Sehnsucht.“
Gott hat sich gezeigt bei einem Besuch im Garten des Klosters Mariastern-Gwiggen. Wir dürfen in Lehnin gespannt sein, wie Gott sich uns zeigt, wie er uns sieht, wie er aus unseren Wüsten Gärten macht.

Prälat i.R. Dr. Christian Rose

Foto oben: Dr. Christian Rose

Klosterkirche St. Marien zu Loccum
Foto: Birgit Birth

Doch wandert nun mit allen
der Stern der Gotteshuld

Jochen Klepper