Betrachtung zur Passionszeit

Das ist meine ganz erhabene innere Philosophie: Jesus zu kennen, und zwar als den Gekreuzigten (Bernhard von Clairvaux).

Im Kirchenjahr schließt sich nach Advent, Weihnachten und Epiphanias unmittelbar die Passionszeit an. Sie beginnt mit dem Aschermittwoch und endet Ostern, das sind fast sieben Wochen. Wir begleiten Jesus auf dem Weg nach Jerusalem. Die Sonntage haben je einen lateinischen Namen und werden auch als Fastensonntage bezeichnet. Es ist eine Zeit der Vorbereitung. In ihr verpflichten sich viele freiwillig zu einem Verzicht auf Liebgewordenes. Sie schränken sich bewusst ein und gehen im Herzen mit Jesus den Leidensweg nach Jerusalem.

In der Passionszeit werden uns durch die Evangelien Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu ins Gedächtnis gerufen. Als die Menschen noch des Schreibens und Lesens unkundig, waren das Erzählen biblischer Geschichten, die Predigt und das Bild von großer Bedeutung. Auch theologische und dogmatische Themen wurden durch sie angesprochen und an die Betrachtenden herangebracht. Ein reicher Schatz jener Zeit ist davon in unseren Kirchen anzutreffen.

Im ehemaligen Zisterzienserkloster Heilsbronn begegnen wir spätmittelalterlichen Darstellungen der Passion Jesu. Die hier gezeigten Tafeln stammen aus der Zeit um 1350. Sie sind Basisbeispiele des durch Kaiser Karl IV. (1316-1378) initiierten schönen oder weichen Kunststils. Karl IV. war ein tiefgläubiger Mann. Während seiner Regierungszeit war er fast jährlich in Heilsbronn, begegnete dort der zisterziensischen Mystik; er stand dem Zisterzienserorden nahe und begünstigte ihn.

Der Passionsaltar zeigt die Gefangennahme Jesu mit Judaskuss im Garten Gethsemane, das Verhör Jesu vor Pilatus, sein Auferstehen und seine Himmelfahrt. Die linke Tafel führt das Karfreitagsgeschehen vor Augen. Die Finsternis ist über die Erde hereingebrochen, ein Engel empfängt das Blut Jesu in einem Kelch. Ein weiterer Engel hinter ihm leuchtet mit einer Laterne. Es ist, als ob dem Betrachtenden das Dogma von der Transsubstantiation des IV. ökumenischen Laterankonzils von 1215 erklärt werden solle: Was du aus dem Kelch trinkst, ist Blut Christi. Der Hauptmann deutet in Richtung des Gekreuzigten und bezeugt den unter dem Kreuz Stehenden: „Hic vere filius Dei erat“ – Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen, Beispiel eines frühchristlichen Glaubenszeugnisses.

Das andere Bild: Jesus als Schmerzensmann Foto II in einer hoch- und spätmittelalterlichen Darstellung aus 1350, ebenfalls im Münster St. Marien- und Jakobus in Heilsbronn. Der Abt kniet in kleiner Figur mit erhobenen Armen vor der überlebensgroßen Gestalt des tot-lebendigen Schmerzensmannes und betet: „Erbarme dich meiner, Gott.“ Der Vorübergehende wird aufgefordert, sich in das Andachtsbild im Sinne der damaligen Passionsmystik und Gottesminne zu versenken. Das Epitaph diente nicht als Altarbild und es stellt nicht ein historisches Ereignis der biblischen Heilsgeschichte dar, sondern es lenkt die fromme Betrachtung auf das Ganze der Passion Christi.

Die Darstellung des Schmerzensmanns, im Mittelalter „Imago Pietatis“ genannt (Bild der hingebenden Gottesliebe), zeigt Christus als den Menschensohn, der sich am Kreuz geopfert hat. Es gibt auch noch andere Bezeichnungen dafür wie „Misericordias Domini“, Barmherzigkeit des Herrn, oder „Erbärmdebild“, wie es im späteren Mittelalter als mögliche Identifikation des Betrachtenden mit dem Leiden Christi gedacht war, als Mit-Leid mit dem Herrn. Indem Christus Passion und Kreuzestod auf sich nimmt, bringt er das Erbarmen Gottes mit den Sünden der Menschheit zum Ausdruck. Das Thema „Leiden“ wird ins Emotionale gewendet, es weicht dem meditativen Nacherleben. Die einzelnen Phasen der Passion werden betrachtend abgeschritten, wobei das Mitempfinden mit dem leidenden Erlöser als methodische Anleitung zu einer Gottesbegegnung dient. Die Passion Jesu wird, Raum und Zeit überspringend, in der Konpassion des Beters vergegenwärtigt.

Der Schmerzensmann zeigt mit den geschränkten Armen vor der Brust seine Wundmale. Um ihn herum sind die Marterwerkzeuge, die Arma Christi (Rute, Dornenkrone, Lanze, Kreuz, Nägel) gruppiert. Im Lied von Paul Gerhardt „O Haupt voll Blut und Wunden“ (EG 85) wird darüber meditiert.

Die zisterziensische Mystik, die Versenkung in das Leiden Jesu, ist in diesem Lied deutlich zu erkennen. „Das ist meine ganz erhabene innere Philosophie: Jesus zu kennen, und zwar als den Gekreuzigten“ (Bernhard von Clairvaux). Paul Gerhardt war sichtlich von dem lateinischen Hymnus des Zisterzienserabtes Arnulf von Löwen vor 1250 „Salve caput cruentatum“ beeindruckt, er hat es in seinem Passionslied „O Haupt voll Blut und Wunden“ nachempfunden. Es ist zum bekanntesten deutschsprachigen Passionslied geworden und hat heute über alle Konfessionsgrenzen hinweg einen festen Platz in den Gesangbüchern der Kirchen.

Möge die Passions- und Fastenzeit unseren Blick auf den Gekreuzigten richten und unsere Hinwendung stärken zu den Nächsten.

Herzliche Grüße und Segenswünsche aus Heilsbronn!

Paul Geißendörfer

Pfarrer i. R.

 

Fotos: Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg