Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserm Vater und unserm Herrn Jesus Christus. Amen.

Als ich diese Klosterkirche kennenlernte, war sie eine einzige Baustelle, liebe Gemeinde. Meine ersten Besuche in den Jahren 2011 und 2012 erinnere ich gut. Alle Kunstwerke verhängt oder entfernt, große Gerüste im Mittelschiff, Staub und Steine allüberall. Abt Hirschler führte mich. Mit sicherem Schritt zog er an Absperrungen vorüber, überquerte gesperrte Bereiche und zeigte mir die verdeckten Schätze, vor allem aber schwärmte er von der zukünftigen Gestaltung. Alles wird schöner, wunderbar, so wie es lange nicht mehr war. Von dem „Vorher“ allerdings hatte ich keine Ahnung. Mit großer Geste kamen dann Ansagen, was sich noch verändern müsse und was so bleiben solle wie es war. Unvergessen der Satz: „Und da oben wollen die Bauleute noch Zuganker durch das Mitteschiff ziehen. So ein Quatsch, wie sieht das denn aus. Das hält auch so, hat doch seit Jahrhunderten gehalten.“ Horst Hirschler, der Baumeister des Herrn, dem wir so vieles an diesem Ort verdanken. Ein Abt, der viel verändert hat und an manchen Stellen auch überzeugt werden konnte, Veränderungen anderer zu übernehmen. Für beides, seine Hartnäckigkeit und seine Weit- und Einsichten fand und findet er Bewunderung. Ich bin jedenfalls froh, dass sie der Mauersicherung durch Zuganker schließlich zugestimmt haben.

Vor einigen Jahren hat Horst Hirschler dieses Kloster in einem Aufsatz vorgestellt, und endet mit einem Satz, der im Kapitelsaal steht:

Stat crux dum volvitur orbis – Es steht das Kreuz, wie auch die Welt sich wandelt. Stabilität im Wandel. Selten haben wir uns so gesehnt nach vertrauten Gewohnheiten wie in diesen Wochen und Monaten. Was bleibt? Die Welt wandelt sich, ja, sie verändert sich immer schneller und bekommt zurzeit einen weltweiten Schub durch COVID-19. „Was gestern noch galt, stimmt schon heut‘ oder morgen nicht mehr“ (Hannes Wader). Irgendwo las ich einmal: Jesus hätte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch gut im Nahen Osten an der Lebenswelt orientieren können. Das meiste, auf das er getroffen wäre, vom Esel bis zum Haus, vom Handwerk bis zur Landwirtschaft, vieles wäre ihm vertraut gewesen. Was dann jedoch in den letzten 200 Jahren geschah, lässt selbst den modernen Menschen an die Grenzen seiner Auffassungs- und Anpassungsfähigkeit kommen. Es ist ein bleibender Irrtum, wir könnten Ordnungen behalten und damit eine alte Welt bewahren. Wer will, dass die Welt so bleibt wie sie ist, will nicht, dass sie bleibt. (Erich Fried). Doch die Welt wandelt sich nicht durch einen beliebigen Zeitgeist.

Sie verändert sich durch zwei Gaben:

Das erste ist die menschliche Vernunft. Die uns mit Kraft und Kenntnis unzählig neue Möglichkeiten geschaffen hat, wie wir unser Leben und diese Welt gestalten können. „Da wies ihn Gott der Herr aus dem Garten Eden, dass er die Erde bebaute, von der er genommen war.“ (Gen 3,23) so heißt es am Ende der Paradiesgeschichte über die Geschichte des Menschen. Der Schöpfer sendet uns in die Weltgestaltung. Martin Luther verfluchte und schätzte diese Kraft der Vernunft. Die Vernunft ist die »höchste Hur, die der Teufel hat« (WA 51, 126). Doch zugleich ist er nicht vernunftfeindlich. Denken wir nur an seine sorgfältig vorbereitete Verteidigungsrede auf dem Reichstag zu Worms: “Wenn ich nicht mit Zeugnissen der Schrift oder mit offenbaren Vernunftgründen besiegt werde, so bleibe ich von den Schriftstellen besiegt, die ich angeführt habe, und mein Gewissen bleibt gefangen in Gottes Wort.“

So gehört die Erfindungsgabe, der Einsatz menschlicher Vernunft, ganz oben zu den Veränderungskräften. Von der Erfindung des Rads bis zum Impfstoff gegen COVID -19. Aber für diesen Weltwandel braucht es mehr als nur die Vernunft. Der Mensch lernt aus der Geschichte. Er erkennt Unrecht, sieht Zerstörungen durch Gewalt und arbeitet für eine bessere Welt. Diese Haltung ist eine zutiefst religiöse Haltung, eine Haltung des Glaubens, denn sich allein auf die Vernunft zu verlassen, kann auch dem Teufel Tor und Tür öffnen. Das Christentum hat in seiner Geschichte immer beide Tendenzen gekannt. Es hat sich mal der Vernunft geöffnet und sich dann wieder ängstlich vor ihr verschlossen.

Vernunft ist mehr als bloße Logik. Sie ist die verantwortliche Weise, mit der Welt umzugehen. Sie folgt nicht einfach einem Zeitgeist. Gottes schöpferische Macht sendet uns in eine Weltverantwortung, der wir uns nicht entziehen können. Und so sind wir diejenigen, die mit unserer Vernunft im Resonanzraum des Schöpfers und in seinem Auftrag wirken. Wir binden die Vernunft an unseren Glauben und unseren Glauben an die Vernunft.

Eine solche Kombination wohnt an diesem Ort, lebt in diesen Räumen seit vielen Jahrhunderten. Und sie strahlte vom Beginn, vor über 850 Jahren, aus in diese Region. Sie war ein Dienst für die Welt. Und sie immer wieder neu und intensiv belebt worden. Auch als dieses Kloster Ende des 16. Jahrhunderts evangelisch wurde. Mit dem Predigerseminar, Jahrhunderte später mit dem Pastoralkolleg, mit dem Religionspädagogischen Institut und der Evangelischen Akademie. Institutionen, in denen mit vernünftigen Gründen auf diesem geistreichen Campus der Dialog mit der Welt gepflegt wird. Das sind keine intellektuellen Kaderschmieden, sondern welt- und Gottoffene Räume des Austausches. Und dieser Geist des Ortes, der Genius loci hat sein Zentrum in diesem Kloster, in dieser Kirche, in diesem Kreuz.

Stat crux dum volvitur orbis – Es steht das Kreuz, wie auch die Welt sich wandelt. Diese Signatur ist zum Merkzeichen für ein weltverantwortliches, dienstbares Leben geworden. Nicht aus sich heraus, sondern aus dem Handeln Gottes an uns.

Als ich das allererste Mal an diesen Ort kam, um das Kloster zu besuchen erwartete mich der Prior in der Auffahrt. Kaum war ich aus dem Auto ausgestiegen, noch ganz beeindruckt von der äußeren Macht und Größe der Stiftskirche, empfing mich Arend de Vries mit den Worten: „Kommen Sie Herr Meister, ich zeige Ihnen, wo sie beerdigt werden.“ Und dann ging es zum Friedhof. Klöster sind Orte, an denen wir lernen, dass wir „Vorübergehende“ sind. Gerade das, macht sie zu Lernorten unseres Lebens. Hat mich damals dieser erste Hinweis vom Prior etwas irritiert, empfinde ich diese allererste Begrüßung als einen guten Einstieg an einem Ort des fortwährenden Gebets. „HERR, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“ (Psalm 90,12).

Dieses Kloster hält die Fenster und Türen auf. Es ist geistlicher Heimatort für die Kirchengemeinde, es öffnet sich für die Anliegen der anderen Einrichtungen auf dem Campus Loccum, und im Herzen pulst das Predigerseminar. Junge Theologinnen und Theologen, die an diesem Ort, in diesem Raum, in diesem Geist einer jahrhundertehalten Treue den Weg für die Kirche im Wandel beschreiben. Der Konvent begleitet und fügt sich in diese Vielfalt ein. Und dieser Ort öffnet seine Türen auch für mich, wenn ich in dieser Aufgabe Verantwortung für das Miteinander übernehme und der Ordnung, die dieses Kreuz setzt, diene.

So wird aus der Verwirrtheit eine Ordnung. Treue heißt nicht, dass alles gleichbleibt, sondern das in allem Wandel etwas beständig und gewiss bleibt in meinem Herzen. Diese Treue ist keine ferne Vision, sondern Wirklichkeit. Dafür gibt es in dieser Kirche ein anderes Bild. Ein Fenster. welches Sie/Ihr auch auf eurem Gottesdienstblatt findet: das Auferstehungsfenster von Johannes Schreiter. Entstanden aus einer wunderbaren Idee von Horst Hirschler. Ich will das Fenster nicht interpretieren, Horst Hirschler macht das unübertroffen. Ich will nur auf eine scheinbare Äußerlichkeit hinweisen. Die Hoffnung der Auferstehung ist keine zukünftige Vorstellung. Sie hängt nicht im Kirchenschiff an höchstem Ort. Wir müssen nicht den Kopf in den Nacken und die Augen in den Himmel richten, um zu sehen, oder zu warten, wann er kommt. Dieses Auferstehungsfenster ist auf Augenhöhe. Sie ist uns wie ein Spiegel unseres Lebens. Nicht fern, sondern unmittelbar nah. Sie verbindet, wie dieses Fenster das äußere mit dem inneren Leben, die Welt der Vernunft mit der Welt des Glaubens. Sie wirkt, beständig und treu, ordnet unseren Weg und beauftragt uns zum Dienst.

Diese Auferstehung macht uns zu Hoffnungswesen.

So ziehen wir durch diese Welt, auch wenn der Wandel und die Veränderungen uns manchmal übermächtig zu sein scheinen. Hier sind wir beheimatet in der Gewissheit: Er war, er ist und er wird kommen. Und wir antworten:

Amen