… so titelte das Kulturmagazin „Titel, Thesen, Temperamente“ in seiner Sendung am 13. Dezember. Hinter uns liegt ein anstrengendes Jahr. Wir sind mitten in einem pandemischen „Lockdown“. Der Zukunftsforscher Matthias Horx sieht uns in einer „Tiefenkrise“. Sie unterbricht Beziehungen, stellt Vertrautes infrage, führt die Verletzlichkeit des Lebens vor Augen. Wir haben vieles zu entscheiden und wissen nicht, ob die getroffenen Entscheidungen richtig sind. Sollen wir Präsenz-Weihnachtsgottesdienste absagen? Wir haben doch gute Hygienekonzepte. Und zudem ist die Religionsausübung ein Grundrecht. Sind wir zu ängstlich? „Ja“, sagen enttäuschte Gemeindeglieder. „Nein“, sagen uns medizinische Fachkräfte. Es ist jetzt schlichtweg dran, Kontakte total einzuschränken. Aus der Kulturbranche erreicht mich die irritierte Frage: Warum dürfen die Kirchen, was wir nicht dürfen? Wir haben doch auch gute Hygienekonzepte. Gastronomie und Hotels werden in ihrer Existenz bedroht. Bei den Visitationsbesuchen in Sigmaringen und Tübingen war stets die Frage präsent: Was macht diese Pandemie mit uns? Verlieren wir die Nähe zu den Menschen? Was können wir als Kirchen der Gesellschaft geben? Das Evangelium, die frohe Botschaft, die uralten Hoffnungstexte, „Lebenswichtiges“, vor allem für die seelische Gesundheit.
Das Kulturmagazin ging der Frage nach: „Brauchen wir Hoffnung?“ Oder führt uns das in eine fatale Zuschauerrolle angesichts der weltweiten Krisen? „Wenn wir hoffnungslos sind, dann regieren Resignation und Zynismus, dann geht die Welt unter“, meint die US-Philosophin Susan Neiman. Zynismus, Fakenews, Ratlosigkeit, Verschwörungstheorien haben wir genug. Inmitten weltweiter Krisen brauchen wir die „radikale Hoffnung“, dass Gutes entstehen kann, auch dann, wenn wir noch nicht wissen wie (John Lear).
„Radikale Hoffnung“ treibt Barack Obama an. In seiner Autobiographie „Ein verheißenes Land“ ermutigt er Mitarbeitende: „Wir sind zu Besserem fähig“ (S. 952), wenn wir uns aus Hoffnung und mit Empathie für das verheißene Land einsetzen. Aus Amerika kommt Hoffnungsvolles, aus Galiläa erst recht, schon seit frühesten Zeiten. Davon erzählt die Jahreslosung aus dem Lukasevangelium (6,36):
„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“
Verantwortung und Entlastung in schwieriger Zeit
Irgendwo auf einem Feld in Galiläa hält Jesus eine Rede: Er tröstet Arme, Hungrige und Traurige. Er ermahnt Reiche, Satte und Spötter. Es klingt sehr anspruchsvoll, womit er uns zu Herzen redet. Nehmt Verantwortung wahr in schwieriger Zeit. Vergesst nicht eure Nächsten: „Seid barmherzig, wie auch euer (himmlischer) Vater barmherzig ist.“ Das klingt nach Überforderung. Jedoch nicht für jede. Eine Bürgermeisterin postet: „Zwei Stunden nachdem die Welle am Freitag über uns hereinbrach, fand ich mich auf einem Stuhl in einem evangelischen Gemeindehaus unserer Stadt wieder. Wir verabschiedeten eine langjährige und bemerkenswerte Mitarbeiterin der Diakonie. Ich saß auf dem Stuhl und tat zum ersten Mal an diesem Tag: Nichts. Nur sitzen und zuhören. Dabei sah ich die Jahreslosung 2021 an der Wand hängen. „Seid barmherzig“…. Noch im Gefühl, gerade in der Welle wieder den Boden unter den Füßen verloren zu haben, dachte ich, dass es wahrscheinlich keine bessere Aufforderung geben kann: „Seid barmherzig!“
Mach´s wie Gott …
Barmherzigkeit ist ein Wesenszug Gottes. Barmherzigkeit Gottes, misericordias domini. Wörtlich übersetzt meint misericordia. „elende Herzen“. In der biblischen Sprache ist das Herz der Ort für das Denken, das Wollen. Im hebräischen Wortfeld von „Barmherzigkeit“ klingt das Wort „Mutterleib“ an. Gottes Barmherzigkeit ist die tiefe Kraft mütterlicher Liebe, die sich uns Menschen zuwendet. Sie ist „weder vernünftig, noch durchdacht, aber von einer Kraft, die sich durch nichts beirren lässt. So ist Gott!“ (C. Böttrich, GPM109 (2020), S. 103).
… werde Mensch …
Nein, wir sind nicht wie Gott, aber wir können uns von seiner Barmherzigkeit berühren und leiten lassen, nach Kraft und Vermögen „Werke der Barmherzigkeit“ üben: Hungrige speisen, Durstige tränken, Fremdlinge aufnehmen, Nackte kleiden, Kranke und Gefangene besuchen. Vielleicht sollten wir die biblischen Werke der Barmherzigkeit in dieser schwierigen Zeit erweitern: Schützt Bedrohte, rettet Ertrinkende, gebt Kindern eine Lebenschance und bei allem: Seid barmherzig mit euch selbst. Die UNO und „Brot für die Welt“ rufen das Jahr 2021 zum „Internationalen Jahr gegen Kinderarbeit“ aus. Ein Jahr der Barmherzigkeit. Wenn wir uns davon im Innersten berühren lassen, ist das Barmherzigkeit und ein guter Anfang. Vielleicht kann ich selbst ein Ort werden, an dem Gottes Barmherzigkeit zur Untermiete wohnt.
… und lebe in der Gemeinschaft,
die uns geschenkt ist. Ja, im zurückliegenden Jahr war das mitunter sehr schwer. Viele Einkehrtage mussten abgesagt werden, auch unser Jahrestreffen in Lehnin. Und auch im neuen Jahr wird das wohl kaum möglich sein. Das schmerzt. Auch das zarte Pflänzchen einer geistlichen Gemeinschaft im Stift Urach, dem Einkehr-haus unserer Landeskirche in Württemberg, wartet auf den Früh- und Spätregen. Der württembergische Lan-desfürst, Graf Eberhard im Barte, gründete von Urach aus die Universität Tübingen mit seinem Wahlspruch »Attempto, ich wage es«. Und er rief die „Brüder des Gemeinsamen Lebens“ nach Urach, um seiner Residenzstadt geistliche Impulse zu geben. In diesen Spuren wollen wir »Geschwister gemeinsamen Lebens« werden, sein und bleiben. Und wir schöpfen aus den Quellen der Barmherzigkeit und der Liebe Gottes. Mein Denkspruch zur Konfirmation kann unseren Durst stillen: „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Verzagtheit, sondern der Kraft, der Liebe und der Zuversicht“ (2Tim 1,7). Ich wünsche Ihnen und Euch allen ein behütetes und zuversichtliches neues Jahr und grüße im Namen des Leitungskreises herzlich bis zum Wiedersehen „Ade, seid Gott befohlen“
Ihr / Euer
Christian Rose