Carta Caritatis – Vortrag beim Jahrestreffen 2022
Eine Art Vorspann
„Andere haben andere Aufgaben, euer besonderer Auftrag ist die Liebe.“ Dies spricht der sel. Abt Gilbert von Hoyland bereits im 12. Jahrhundert einem zister. Frauenkonvent zu. Ebenso der sel. Guerric von Igny, wenn er sagt: „Andere fliegen, indem sie der Kontemplation leben. Fliege du, indem du liebst.“
Und der hl. Wilhelm von St. Thierry geht über die Benediktsregel hinaus, wenn er vom Kloster spricht. Der hl. Benedikt nennt seine Klöster Schulen des Herrendienstes (vgl. RB Prol. 45). Nicht für den Dienst des Herrn, sondern als Schulen der Liebe – schola caritatis – bezeichnet Wilhelm im 12. Jahrhundert ein Zisterzienserkloster. So haben wir also auch hier: die Liebe.
Soviel sei also in einem Vorspann gesagt, doch nun zum eigentlichen Thema meines Vortrages: die Urkunde der Liebe, die Carta Caritatis, das Verfassungsdokument unseres Ordens.
Einleitung
„Wo die Liebe wohnt“ – diesen Leitgedanken haben Sie für die diesjährige Jahrestagung gewählt. Es geht und ging ihnen sicher wie mir: dass wir fast automatisch ergänzt haben: „Wo die Güte und die Liebe wohnt, dort nur wohnt der Herr“ oder vielleicht Lateinisch „Ubi caritas et amor, Deus ibi est.“
Wo die Liebe wohnt, da wohnt Gott. An sich eine simple Aussage, ganz auf dem Hintergrund des Johannesbriefes: Gott ist die Liebe.
Der hl. Benedikt und mit ihm die gesamte christliche Spiritualitätsgeschichte nennt Klöster „Haus Gottes“ in Anlehnung an die Vision des Jakob im 1. Buch Mose; wenn das Kloster also ein Haus Gottes ist und Gott die Liebe ist, wohnt Gott also im Kloster. Doch weiter gefasst: der hl. Völkerapostel Paulus schreibt, dass wir Tempel des Heiligen Geistes sind, dass die Liebe Gottes in unsere Herzen ausgegossen ist durch den Hl. Geist, der in uns wohnt. Also wohnt Gott in uns. Und Jesus bat seinen Vater am Abend vor seinem Leiden, dass er mit dem Hl. Geist seinen Jüngern einwohnen möge.
Ja, wo wohnt denn die Liebe? Sie will in uns wohnen.
In Vertretung unseres P. Meinrad darf ich in diesen Tagen mit Ihnen und bei Ihnen sein; und stehe nun hier am Rednerpult, um über unsere erste Ordensverfassung zu sprechen. Denn, obzwar ein rechtliches Dokument, trägt auch sie die Liebe im Namen: Carta Caritatis, Urkunde der Liebe. Das ist ja auf den ersten Blick doch ungewöhnlich und gemeinhin erwartet man sicher einen spirituellen Text, wenn man von einer Urkunde der Liebe hört. Und doch war es unseren Vätern wohl wichtig, auch in der Verfasstheit der Gemeinschaften, aus denen der Zisterzienserorden wurde, genau diesen Titel zu wählen.
Der ausdrucksstärkste Passus, der der Carta auch ihren Namen gegeben hat, findet sich bereits im Prolog: „Ehe sich die Zisterzienserabteien auszubreiten begannen, beschlossen Abt Stephan und seine Mitbrüder, keinesfalls Abteien in einer Diözese zu gründen, bevor das betreffende Bischof das Dekret gutgeheißen und bestätigt hätte, das von Cîteaux und seinen Tochterklöstern verfasst und bestätigt worden war. So wollte man jedes Ärgernis zwischen Bischof und Mönchen vermeiden.
In diesem Dekret bestimmten die genannten Brüder und legten für ihre Nachfahren fest, um einem künftigen Bruch des gegenseitigen Friedens vorzubeugen, durch welchen Vertrag, auf welche Art und Weise, ja vielmehr mit welcher Liebe ihre Mönche, dem Leibe nach auf Abteien in verschiedenen Weltgegenden verstreut, dem Geiste nach unzertrennbar miteinander vereint bleiben sollten.
Diesem Dekret wollten sie den Namen Carta Caritatis geben, denn es schließt jede Belastung durch Abgaben aus und hat so allein die Liebe und das Wohl der Seelen in göttlichen und menschlichen Dingen zum Ziel.“
Im 3. Punkt der Carta, der von den liturgischen Büchern der Klöster spricht, findet sich der noch bekanntere Absatz, in dem wiederum von der Liebe gesprochen wird: „vielmehr wollen wir in der einen Liebe, unter der einen Regel und nach den gleichen Bräuchen leben.“
Unser Orden und somit unsere Verfassung sind nicht vom Himmel gefallen, sondern ordnen sich ein in eine Zeit der spirituellen Erneuerung. Im 11. und 12. Jahrhundert schossen Klöster und Gemeinschaften wie Pilze aus dem Boden: Die Vallombrosaner, die Zisterzienser, die Kartäuser, die Prämonstratenser, um nur vier bekanntere zu nennen. Allen gemeinsam war die Sehnsucht, auf ihre jeweilige Weise, Jesus nachzufolgen, den Aposteln gleich zu leben – jene vita apostolica zu führen, arm mit dem armen Christus zu leben, ein gemeinsames Leben zu führen, das im Ideal wie die (wohl eher idealisierte) Urgemeinde war: ein Herz und eine Seele.
Diesem Wunsch entspricht dann auch jenes Rechtsdokument, von dem ich spreche. Jene Einheit des Geistes zu wahren, von der der hl. Paulus sagt.
Wichtig ist, dass diese Bezeichnung keine nachträgliche ist, sondern „dass sie [die Verfasser] diesen Namen gewählt haben, da die Erhebung von Abgaben gegenüber Tochterklöstern durch die CC ausgeschlossen wird. Nur die Liebe und das Wohl der Seelen in göttlichen und menschlichen Dingen sollte das Ziel der CC nach dem Willen ihrer Verfasser sein.“
Allgemeiner Überblick
Diese Carta ist eine Gesetzesurkunde, die dem Orden von Cîteaux samt seinen Klöstern Festigkeit und das „dem Orden […] eigene Gepräge“ verleiht. Nötig wurde die Festschreibung dieser Verfassung durch die Gründung von Tochterabteien, vor allem ab der Gründung der Abtei Pontigny im Jahr 1114. „Die « Charta caritatis » verpflichtete die zisterziensischen Klöster, sich nach Cîteaux als dem Normkloster auszurichten, d.h. in der Regel, Regelauslegung und den klösterlichen Gewohnheiten […] Gleichförmigkeit mit Cîteaux zu beobachten (« una caritate, una / regula similibusque vivamus moribus »)“ und bildete zugleich eine „Föderation, die die Autonomie der einzelnen Klöster anerkannte, jedoch ein Visitationssystem und ein Generalkapitel vorsah, […] um den Eifer in der monastischen Observanz nicht erkalten zu lassen.“ Durch diese Neuheit im Ordenswesen , wie es Altermatt in seinem Artikel der Theologischen Realenzyklopädie nennt, kann man „die Zisterzienser als den ersten eigentlichen Orden im modernen Sinn“ verstehen.
Mit der Ausgewogenheit ihrer Verfassung, die hier an den Prinzipien Filiation, Visitation und Generalkapitel noch beschrieben wird, „beschritten die Zisterzienser einen Mittelweg zwischen dem cluniazensischen System der Zentralisation […] und der (alten benediktinischen) Autonomie des Einzelklosters und seines Oberen.“
Der Name
Befasst man sich nur oberflächlich mit den Zisterziensern, so wird kaum auf den Titel der Ordensverfassung eingegangen, ja oft wird deren Bedeutung nicht gesehen. Doch bei näherer Betrachtung stellt sich die Frage, wie ein rechtliches Dokument zu dem wohlklingenden und vielversprechenden Titel einer Urkunde der Nächstenliebe“ kommt. Wichtig ist, dass diese Bezeichnung keine nachträgliche ist, sondern dass die Verfasser diesen Namen gewählt haben, da die Erhebung von Abgaben gegenüber Tochterklöstern durch die CC ausgeschlossen wird. Nur die Liebe und das Wohl der Seelen in göttlichen und menschlichen Dingen sollte das Ziel der CC nach dem Willen ihrer Verfasser sein.
Die Frage nach dem Verfasser
Im Exordium Cistercii wird Stephan Harding rühmlich als Verfasser der CC genannt: „verfaßte der ehrwürdige Vater Stephan in kluger Wachsamkeit eine Urkunde von wunderbarer Ausgewogenheit. […] Daher wünschte er für diese Urkunde auch treffend den Namen „Carta Caritatis“. Diese Eindeutigkeit in der Verfasserfrage erscheint nach heutigem Stand der Forschung allerdings schwierig. Ein Blick in die Textüberlieferung der CC1 und CC2 zeigt, dass er zumindest nicht als alleiniger Autor bezeichnet werden kann, wenn es im Prolog heißt: „domnus stephanus abbas et fratres sui…“ . Wer „seine Mitbrüder“ genau sind, lässt sich heute nicht mehr feststellen, ob hier der Konvent oder die Äbte der Primargründungen gemeint sind; für die Arbeiten an der Verfassung benutzten Harding und seine Mitverfasser allerdings Arbeiten bedeutender Kanonisten wie Burchard von Worms, Anselm von Lucca oder Ivo von Chartres, die in rechtlichen Werken bereits Bedeutendes für die Umsetzung der gregorianischen Reform beitrugen.
Quellenlage und Aufbau
Für die Carta Caritatis finden sich zwei Hauptquellen bzw. Codices: der Kodex 1711 von Trient, der auf die Zeit zwischen 1130-1135 sowie der Kodex 31 von Ljubljana, der um das Jahr 1152 datiert wird. Allgemein ist jeder der beiden Codices so aufgebaut: 1. Exordium, einer historischen Einleitung in den Text der CC, darauf 2. der Text der CC in der jeweiligen Version, 3. Statuten der Generalkapitel, 4. Buch der Ecclesiastica Officia und schließend mit dem Text des Usus Conversorum. Nach heutigem Stand geht man von vier Versionen der CC aus, nämlich einem „Urtext“, der Carta Caritatis primitiva, der Carta Caritatis prior, der Summa Cartae Caritatis und der Carta Caritatis posterior, wobei hier nur auf die ersten beiden eingegangen werden soll.
Die verschiedenen Versionen der Carta Caritatis
Die Carta Caritatis primitiva (CC primitiva)
Wie der Name schon sagt, ist der Text der CC primitiva eine Vorstufe, beziehungsweise wird er als Vorstufe zur CC1 gesehen. Als Grund für die Entstehung der CC primitiva wird die Gründung der Abtei Pontigny 1114 angenommen, welche zwar nicht generell die erste Filiation Cîteaux’ ist, aber die erste außerhalb der Diözese Châlons-sur-Sâone , in der das Neue Kloster liegt. Im Text der CC primitiva taucht bereits die Bezeichnung Carta Caritatis auf , was eindeutig beweist, dass dieser Name und somit der oben erläuterte Beweggrund für diesen Namen auf älteste Quellen zurückgeht: „Cartam vero caritatis et unanimitatis…“ Die heute bekannte Form der CC primitiva ist in drei Abschnitte gegliedert, die konstitutiv für alle späteren beziehungsweise aktualisierten Versionen de sind. So handelt der erste Abschnitt davon, dass keinerlei finanzielle Abgaben von den Tochterklöstern verlangt werden dürfen; zwar ist der Abt für das „geistliche Wohl“ und die Übereinstimmung der Gründung mit der Mutter verantwortlich, doch hat er kein Recht, sich ungefragt in die finanziellen und materiellen Angelegenheiten der Filiation einzumischen.
Im zweiten Abschnitt drängt der Verfasser auf die Einheitlichkeit bezüglich der Interpretation der regula benedicti, die nach dem Vorbild Cîteaux’ erfolgen soll, was sich in kürzester Form so ausdrückt: „una caritate, una/ regula similibusque vivamus moribus“. Schließlich soll sich diese Konformität auch in der Liturgie ausdrücken, weswegen drittens hier auf Einheitlichkeit gedrungen wird. Der aktuelle Stand der Forschung ist, dass diese Textausgabe großteils identisch ist mit der CC1. Zur CC1 weiterentwickelt und überarbeitet wurde die CC primitiva wohl auf den ab 1114 stattfindenden Äbtekapiteln in Cîteaux.
Die Carta Caritatis prior (CC1)
Die sog. Carta Caritatis prior wurde 1939 von J. Turk in der Universitätsbibliothek von Ljubljana in Slowenien gefunden, der sie nach eingehenden Studien im Jahr 1945 veröffentlichte. Da sie, wie die Forschungen ergaben, älter als der bisher bekannte Text der CC ist, nannte er sie CC1. Diese Ausgabe ist heute aus acht verschiedenen Handschriften bekannt. Jedoch sind auch bereits in der ersten Form der Carta später ebenfalls übernommene Charakteristika bekannt, so die jährliche Visitation der Tochtergründungen (mit Ausnahme von Cîteaux), das in Cîteaux stattfindende Generalkapitel als der „oberste[n] Aufsichts-, Regierungs-, und Gerichtsinstanz“ des Ordens (das an sich ein erweitertes Konventkapitel von Cîteaux ist, sprich, dass sich hier der gesamte Konvent und zudem die Äbte der anderen Klöster versammeln, wie es im 8. Kapitel heißt: „[…] Alle Äbte sämtlicher Gegenden müssen an dem gemeinsam festgelegten Tag zum Neukloster kommen und dort dem Abt jenes Klosters und dem Kapitel …“ ) als auch die Festschreibung des Grundsatzes, dass wirtschaftlich schwächere Klöster durch finanzielle Hilfe Unterstützung erhalten sollen. Ebenso werden grundlegende Umgänge hinsichtlich der Klostervorsteher, wie des Verhaltens gegenüber unwürdigen Äbten, der Vorrangstellung untereinander oder des Vorgangs der Abtwahl, behandelt. Zwar besitzt in dieser Fassung der CC der Ortsbischof noch mehr Rechte als in späteren, jedoch behält sich der Orden seit Beginn die Regularvisitation, Vorsitz bei der Abtwahl und Bestätigung des Abtes, Entgegennahme des Rücktrittes usw. vor. Bedeutend für die folgenden Versionen, ja für die ganze Geschichte der CC ist, dass dieser Text von Papst Calixtus II. am 23. Dezember 1119 die päpstliche Approbation erhielt , und somit von höchster kirchlicher Autorität Bestätigung fand.
Besonderheiten in der Carta Caritatis
Im Folgenden soll auf drei Charakteristika der zisterziensischen Ordensverfassung eingegangen werden, nämlich das Prinzip der Filiation, sprich der Gründung von Tochterklöstern, der Visitation und des Generalkapitels, die, wenn man die Zahl der Gründungen in kurzer Zeit betrachtet (beim Tode des hl. Bernhard von Clairvaux 1153 gab es bereits 344 Abteien in ganz Europa! ), durchaus von Erfolg gekrönt waren. Denn „[i]ndem sie die regelmäßige jährliche Visitation und das regelmäßige jährliche Generalkapitel einführten, schufen sie ein bislang nicht bekanntes, optimales Kontrollsystem zum Schutz zisterziensischer Observanz.“
Das Prinzip der Filiation
Damit der Zisterzienserorden, beziehungsweise das Neue Kloster nicht auf sich selbst beschränkt bleibt ergeben sich bereits unter Abt Stephan Harding (1109-1133) die ersten Tochtergründungen von Cîteaux (erste Gründung ist 1113 La Ferté ). Filiation, von lat.: filia – Tochter, bedeutet, dass eine selbstständige Abtei ein Kloster gründet; so wird die gründende Abtei zum Mutterkloster der neugegründeten Abtei. Jedoch erfüllt sich bei einer Filiation das, was die CC fordert: es dürfen keine Abgaben von den Tochterklöstern verlangt, und darüber hinaus, auch nicht angenommen werden. In allen drei Versionen der CC wird auf die „weitgehende Selbstständigkeit und finanzielle Unabhängigkeit“ verwiesen, die jede Tochtergründung an sich hat – im Gegensatz „zu den bis dahin herrschenden zentralistischen Klosterverbandsmodellen, wie z.B. Cluny.“ Die eigentliche Aufgabe des Gründerabtes war es, sich um das geistliche und religiöse Wohl der Mönche seiner Tochter zu kümmern, darüber hinaus aber auch um die Regularitäten bezüglich des Abtes, sowie die vorgeschriebene jährliche Visitation. Dieses Verbot der Abgabenerhebung ist es ja gerade, was die CC zu einer Carta Caritatis macht, dass sie eben keine Zahlungen in Geld oder Naturalien verlangt. Da an sich jede Abtei selbst Gründungen vornehmen konnte, konnte „jedes Kloster durch Neugründungen in den Rang einer Mutterabtei aufsteigen und damit in dieselben Rechte gegenüber seinen Tochterklöstern eintreten“ , trotzdem blieb immer nur eine Verbindung von zwei Abteien gegeben, sodass „die Hierarchieketten nie länger werden können, egal wie viele Tochter- und Enkelklöster ein Mutterkloster hat.“
Dieses klassische Verständnis der Filiation ist heute nicht mehr gegeben. Historisch bedingt wurde es teilweise unmöglich, die Filiationslinie zu beachten, gerade auch durch die Herausbildung der Nationalstaaten; oft waren es die weltlichen Herrscher, die nicht wollten, dass ein „fremder“ Oberer in ihrem „Herrschaftsgebiet“ aktiv wird. Aber auch durch Kriege wurde es unmöglich, dass der Vaterabt seine Gründungen visitiert. So bildeten sich die Kongregationen ab dem 16. Jahrhundert, die nun die Klöster in einem geographischen Gebiet zusammenfassen. Die österreichische Kongregation von Hlst. Herzen Jesu umfasst heute die Abteien Rein, Schlierbach, Zwettl, Lilienfeld, Wilhering, Hohenfurth (Tschechien) und Heiligenkreuz. Doch gibt es in Österreich auch zwei Männerklöster der Mehrerauer Kongregation (Mehrerau, Stams) und zwei Frauenkonvente (Mariastern-Gwiggen, Marienfeld); doch gehören zur Mehrerauer Kongregation Klöster in Deutschland, Amerika und Slowenien.
Die jährliche Visitation
In Österreich gibt es das Sprichwort: „Was ist der Unterschied zwischen einer Wurst und der Visitation? – Die Wurst ist für den Hund, die Visitation ist für die Katz‘!“ Eine zweite Besonderheit in der CC bildet das zisterziensische Prinzip der Visitation, das bereits immer wieder angeklungen, nun aber näher betrachtet werden soll. Hier treffen zwei interessante Rechtsfälle zusammen, nämlich die eigentliche Unterordnung des Sohnabtes gegenüber dem Vaterabt und die Autonomie des Sohnabtes im Hinblick auf den Vaterabt. Die Visitation hängt ganz eng mit der Filiation zusammen, da diese sich einander bedingen; jeder Gründerabt eines Tochterklosters muss jährlich diese Gründung visitieren. Auch wenn der Vaterabt „seine“ Gründung visitiert, ist doch die Basis „die Autonomie der einzelnen Zisterzienserabteien, die voneinander wirtschaftlich unabhängig sind.“ Deswegen darf er sich nicht einfach in die materiellen Gegebenheiten des Klosters einmischen, wie es sowohl in CC1 und CC2 heißt: „Er hüte sich davor, die materiellen Angelegenheiten des Klosters, das er gerade besucht, gegen den Willen des Abtes und der Brüder zu behandeln und zu regeln oder sich in sie einzumischen.“ Über die finanzielle Lage informieren durfte er sich jedoch. Jeder Vaterabt besitzt die „Aufsichtsrechte nur über seine unmittelbaren Gründungen“ und nicht über deren Gründungen oder in anderen Klöstern; so findet die „Gewalt des Visitators wiederum an der vollen Verantwortlichkeit des vom Tochterkloster gewählten Abtes ihre Grenze“ , – allerdings nur, wenn der eigentliche Abt auch gerade im Kloster ist. Sollte dem nicht der Fall sein, so hat der visitierende Abt auch im finanziellen Bereich die Vollmacht zu handeln. Dihsmaier fasst die Funktion der Visitation in ihrem Werk deshalb wie folgt zusammen: „Die Vorschriften zur Visitation sind demzufolge darauf gerichtet, die Erhaltung der einheitlichen Observanz und der Ordensregeln sicherzustellen, aber dabei sollte die Autorität des Ortsabtes keinesfalls untergraben werden.“
So dient die Visitation also dem Zweck, das Feuer des Glaubens gegebenenfalls zu erneuern. Der Visitator, die Visitatorin sollen den jeweiligen Gemeinschaften helfen, in der Beziehung zu Jesus neu zu wachsen, sie zu erneuern. Dazu braucht es aber die Bereitschaft jedes einzelnen Mitglieds. Wenn ich also in der Haltung des oben genannten Zitates in eine Visitation gehe, wird sie sicher nicht fruchtbar und ich fühle mich nur verbessert und kontrolliert. Wenn ich jedoch mit einem offenen und bereiten Herzen in eine Visitation hineingehe, wird es, so glaube ich, immer etwas Fruchtbares sein.
In diesem Sinne ist eine Visitation nichts Administratives, sondern (zumindest heute) ein geistliches Geschehen. Es geht um die Liebe zu Jesus.
Das Generalkapitel
Eine besondere Rolle in der Verfassungs- und so auch der Ordensgeschichte spielt das Generalkapitel, das sich jedes Jahr im Mutterkloster Cîteaux trifft und als „das wichtigste Lenkungs- und Leitungsorgan des Ordens“ gilt. Den Grund für die Generalkapitel geben sowohl CC1 als auch CC2 selbst an: „Im Generalkapitel sollen die Äbte über das Heil der Seelen sprechen, Anordnungen treffen, wenn hinsichtlich der Beobachtung der heiligen Regel oder der Ordenssatzungen etwas zu verbessern oder zu fördern ist, sowie den Frieden und die gegenseitige Liebe neu zu beleben.“ Eine Neuheit dieser Versammlung ist, dass der Abt von Cîteaux, der zwar den Vorsitz führt, nur der primus inter pares und das Generalkapitel „als oberste Instanz auch dem Abt des Hauptklosters Cîteaux übergeordnet“ ist. Willibald Plöchl weist in seinem Werk zum Kirchenrecht darauf hin, „dass es den Zisterziensern vorbehalten war, mit dem Generalkapitel ein neues Rechtsinstitut ins Leben zu rufen.“ Und diese „oberste Gewalt“ des Ordens schafft zusammen mit den verpflichtenden Visitationen der Tochterklöster „ein bislang nicht bekanntes, optimales Kontrollsystem zum Schutz der Uniformität zisterziensischer Observanz.“ In diesem Zusammenhang soll nochmals darauf hingewiesen werden, dass es in der Geschichte der Generalkapitel auch eine große Änderung gab, nämlich der Umwandlung des Generalkapitels in ein reines Äbtekapitel; anfangs war das jährlich stattfindende Generalkapitel in Cîteaux eher ein erweitertes Konventkapitel.
Seit dem Jahr 2000 sind auch alle Äbtissinnen und höhere Oberinnen zum Generalkapitel eingeladen und haben dort gleiche Rechte wie die Äbte; vorher haben die jeweiligen Abtpräsides den Frauenkonventen von den Generalkapitelsentscheidungen berichtet und ihnen, salopp gesagt, weitergegeben, was sie fortan zu tun oder zu lassen haben.
Die weitere Entwicklung der Carta Caritatis
Im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte wurde die ursprüngliche Version der CC immer wieder verändert bzw. aktualisiert. Dies zeigt deutlich, dass die ursprüngliche Form der CC nicht als unantastbar gilt , was sicherlich auch als die Stärke dieser Verfassung anzusehen ist. Dies machte die Regel auch zum Vorbild für andere Mönchsorden, und zwar nicht erst seit dem IV. Laterankonzil 1215, das anderen Orden empfiehlt, die CC zu übernehmen. Denn schon in der zweiten Generation des Ordens von Cîteaux wird die Ordensregel adaptiert; so findet sich beispielsweise entweder der komplette Text oder wenigstens Teile der CC in den Regelwerken der Mönche von Chalais, der Regularkleriker von Arrouaise oder der Prämonstratenser und Augustiner von Oigny, die alle in den Jahren 1130-1135 geschrieben worden sind. Ebenso geht die Einrichtung des Generalkapitels bei den Kartäusern (seit 1153) auf die CC zurück. Papst Gregor IX. verlangte 1231 selbst von den Cluniazensern, „ihr Generalkapitel künftig gemäß den zisterziensischen Gewohnheiten einzurichten.“
Schluss – geistlich
Unser Herr Generalabt Dom Mauro-Giuseppe schrieb uns in seinem Weihnachtsbrief 2019 auch über die Carta Caritatis. Er hob vor allem diesen Passus hervor: „allen nützlich sein“. Dies wollten unsere Väter, die Verfasser der Carta Caritatis: den Brüdern und Schwestern im Orden, der Kirche – und wir dürfen es heute sicher ergänzen: der ganzen Welt nützlich sein.
Wir leben in den Klöstern ja nicht in einem luftleeren Raum; der oft erhobene Vorwurf, Ordensleute würden sich egoistisch nur um sich drehen und ihrer Selbstheiligung nachstreben – lassen Sie es mich salopp mit „Heilsegoismus“ bezeichnen – ist schon mit unserer Urverfassung widersprochen.
Diesen Auftrag haben uns unsere Väter also mitgegeben: unser Leben in Gemeinschaft, in der Suche nach Gott, in Glaube, Hoffnung und Liebe, soll fruchtbar werden für die ganze Welt. Denn keiner lebt sich selber und keiner stirbt sich selber; leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ob wir leben oder ob wir sterben, wir gehören dem Herrn (vgl. Röm 14,7). So schreibt der hl. Paulus der Gemeinde in Rom.
Vielleicht ist dies in einer Zeit der Gottvergessenheit wichtiger denn je: der Dienst der Stellvertretung. Und das betrifft wiederum nicht nur uns Ordensleute, sondern der Kreis weitet sich: Sie als Gemeinschaften an ehemaligen Klosterstätten – oder soll ich sagen: wieder erwachten Klosterstätten, aber auch jeden Getauften: weil wir des Herrn sind, weil wir zu Jesus Christus, dem Auferstandenen gehören, haben auch wir den Auftrag, Zeugen zu sein und durch unseren Glauben, durch unser Gebet und unser Tun aus dem Glauben allen nützlich zu sein – prodesse cupientes.
„Um diesem Wunsch Ausdruck zu verleihen, schrecken die Autoren der Carta Caritatis nicht zurück vor einem eher starken Wort: cupientes. Das lateinische Verb cupere, oft mit einem verstärkenden Adverb versehen, kann mit „begehren“ übersetzt werden. Damit wird ein brennender Wunsch, eine Leidenschaft, liebende Leidenschaft ausgedrückt. Solche Worte werden in der Regel nicht für Gesetzestexte, sondern eher für Liebesbriefe verwendet. Das Wort erinnert uns aber vor allem daran, dass jede Berufung in der Kirche niemals nur eine Beschäftigung, eine Arbeit und auch nicht nur ein Amt, ein Dienst ist, sondern ein durch die Begegnung mit Christus erwachtes, liebendes Verlangen. Alles beginnt und muss immer neu mit diesem Feuer beginnen, welches der Blick und der Ruf Jesu in unserem Herzen entfachen und es verlocken, ihm zu folgen. Die ersten Jünger Jesu, Andreas und Johannes, sind Jesus gefolgt, weil in ihren Herzen ein unwiderstehlicher Wunsch entbrannte, bei ihm zu bleiben: „Meister, wo wohnst du?“ (Joh 1,38) Die Person Jesu hatte sie angezogen, und nach der Begegnung schien ihnen nicht so wichtig, was Jesus ihnen gesagt oder was sie mit ihm gemacht hatten, sondern einfach, dass sie bei ihm geblieben sind: „Und sie blieben jenen Tag bei ihm“ (Joh 1,39).“
Da nun auch sie zur familia cisterciensis gehören, gilt es also uns allen, die wir heute hier sind beziehungsweise für jeden, der an Christus glaubt: dass wir uns einbringen in unsere Welt und Zeit, dass wir, dem Sauerteig gleich, unsere Welt mit der Botschaft Christi durchdringen. Nicht mit der Missionskeule, sondern oft und beständig durch kleine Gesten, durch ein aufmunterndes Wort, durch unser Zeugnis im alltäglichen Leben. Aber auch durch unser Gebet, das wir auch stellvertretend beten für eine Welt, die anscheinend verlernt hat, zu beten.
Doch gibt es auch die stummen Zeugen Gottes: Kirchen und Klöster. Da Schönheit für uns auch ein Attribut Gottes ist, kann und darf uns die Schönheit einer Kirche, die Schönheit unserer Klöster auch zum Verweis auf den noch je schöneren sein; wenn unsere Väter prunkvolle Ausstattungen der Kirchen ablehnten, dann lehnten sie ja nicht die Schönheit ab! Gerade in einer vordergründigen Schlichtheit findet sich soviel Schönes! Diese Schlichtheit soll uns fokussieren, soll alles Ablenkende aus dem Blick nehmen, um offen und bereit für Gott zu sein, frei zu werden für die Begegnung mit dem Lebendigen.
Allen nützlich sein; das schließt Gemeinschaft mit ein. So komme ich nun zum Ausblick zurück zur Regel des hl. Benedikt, eigentlich der Ur-Verfassung unseres Ordens: er schreibt im 72. Kapitel, am Ende seiner Regel, aber vor dem Epilog, dass Christus uns gemeinsam zum ewigen Leben führen möge.
Das schreibt der hl. Benedikt seinen Brüdern ins Stammbuch. Ich will es heute weiter fassen, über die je konkrete klösterliche Gemeinschaft hinaus: auch uns, die uns der gemeinsame Glaube an Jesus den Christus eint, möge ER selbst zum ewigen Leben führen.
fr. Aloysius Maria OCist
Stift Heiligenkreuz